von Pam Sorooshian Erinnern
Sie sich,
wie viel Spaß Sie hatten als Ihr Kind Sprechen gelernt hat? Wie
jedes Wort
einfach bezaubernd war? Wie sehr Sie am Anfang Ihre Fantasie
angestrengt haben,
um herauszubekommen, was die Laute, die es von sich gab, bedeuten
mochten? Wie
man es allmählich immer leichter verstehen konnte? Wie es Sie
manchmal
überrascht hat, wenn es ein Wort hervorbrachte, von dem Sie nicht
wussten, dass
es dies kennt? Wie es „ganz von alleine“ einfach anfing, mehrere
Wörter
aneinander zu reihen und wie sich diese Wörter langsam zu Phrasen
und dann
Sätzen entwickelten? Erinnern Sie sich, wie es Fehler machte, wenn
es Wörter
auf eine Art und Weise zusammensetzte, die zwar von der Logik her Sinn
machte,
aber nicht dem üblichen Sprachgebrauch entsprach? Hat
es Wörter erfunden? Hat es Wörter falsch ausgesprochen? War
es nicht
wunderbar und erstaunlich befriedigend den langsamen, aber
unaufhaltbaren
Fortschritt zu beobachten, den seine Sprechkünste machten?
Überdenken Sie eine
Minute, welche Rolle Sie bei dieser Entwicklung gespielt haben. Ich
erinnere mich,
wie meine älteste Tochter einmal, als sie hört, wie jemand an
der Haustür
klopfte, hinter der sie stand, rief: „Wermand ist da?“ Ich erinnere
mich an
ihren ersten Zwei-Wort-Satz: „Hallo alle“, den sie häufig rief und
dabei Leuten
zuwinkte, während wir durch die Gänge des Supermarktes
fuhren. Jeder um sie
herum antwortete mit Umarmungen und einem Lächeln und
aufmunterndem Nicken, und
vor allem sprachen wir viel mit ihr und hörten ihr sehr genau zu. Das
Lesen lernen
kann genau so eine wahre Freude sein wie das Sprechen lernen. Wenn Sie
Glück
haben, wird Ihr Kind größtenteils in Ihrer Gegenwart und in
aller
Öffentlichkeit Lesen lernen, so dass Sie mit aufmunternder
Anerkennung darauf
reagieren können, genau wie zu der Zeit als es begann Laute zu
Wörtern
zusammenzusetzen. Einige Kinder jedoch lernen eher im Stillen Lesen und
entschlüsseln es in ihrem eigenen Kopf. Wir Eltern können
dies respektieren,
indem wir uns nicht einmischen und regelmäßige
Demonstrationen dessen fordern,
was das Kind lieber für sich behalten möchte. Wir werden
trotzdem merken, dass
das Kind mehr und mehr mit der schriftlichen Sprache anfangen kann;
dass es
beispielsweise Schilder liest. Und wir können auf jeden Fall
unseren Teil
beitragen, indem wir ihm so viel wie möglich vorlesen und es mit
Druckerzeugnissen aller Art umgeben und mit einer breiten Auswahl an
Gelegenheiten, selbst Schrift anzuwenden. Bücher
sind die
offenkundigsten Druckerzeugnisse. In unserem Haus sehen wir Bücher
als ebenso
wichtig an wie die Nahrung, die wir essen, und die Luft, die wir atmen.
Sie
begeistern uns, wir schleppen sie überall hin, wir sprechen
über sie, wir
verschenken sie, wir äußern Ohs und Ahs über die
Illustrationen, wir lesen uns
hier und da gegenseitig etwas vor, wir stellen uns vor, dass wir
Figuren aus
den Büchern sind, wir entwickeln Vorlieben für Autoren und
versuchen all ihre
Bücher zu lesen, wir lesen Bücher mit lustigen Gedichten und
wunderschönen Gedichten,
wie lesen, um uns zu informieren, wir hören Hörbücher,
wir gehen zu Buch-Signierstunden,
wir verbringen Stunden um Stunden in der Bücherei und in
Buchhandlungen. Wir gehen
im Allgemeinen nicht sehr umsichtig mit unseren Büchern um, das
Haus ist voller
Bücher, die hier und da und überall verstreut liegen. Genauso
sieht das Auto
aus. Die Kinder schlagen beinahe jeden Abend mit einem Buch in der Hand
ein.
Über die Jahre haben sich jedoch bestimmte Lieblingsbücher
angesammelt, die mit
besonderer Vorsicht behandelt werden, mit großer Sorgfalt gelesen
werden und
niemals in der Badewanne. Viele unserer Bücher haben wir
übrigens auf dem
Trödelmarkt oder in Second-Hand-Läden erstanden. Wir
haben auch
viele Zeitschriften abonniert. Jedes Jahr verkaufen die Pfadfinderinnen
Zeitschriften-Abos, um etwas Geld in die Kasse zu bekommen, und wir
verbringen
Stunden damit, die Liste zu studieren, und jedes Kind darf sich ein
paar
Zeitschriften aussuchen. Einige unserer Lieblingszeitschriften
über die Jahre
waren „Ladybug“, „Cricket“, „Highlights“, „Ranger Rick“ und „My Big
Backyard“.
Als die Kinder älter wurden, haben sie sich für
„Puzzlemania“, „Zillions“,
„American Girl“, „Kids Discover“, „Muse“, „National Geographic World“
und
andere entschieden. Kinder,
die Lesen
lernen, wollen das geschriebene Wort meist nicht nur lesen lernen,
sondern es
zugleich auch selbst erzeugen. Also stellen wir ihnen viele, viele
Schreibmaterialien zur Verfügung. Darunter sind
Qualitätsbuntstifte,
Wachsmalstifte, Textmarker, Stempel, Aufkleber, Schablonen,
Wasserfarben und
alles möglich, mit dem man gut malen oder schreiben kann. Das Haus
ist voller
Papier in allen Variationen: vom Recycling-Papier, das bereits
einseitig
beschrieben ist bis hin zu verschiedenen schönen Papiersorten.
Kinder LIEBEN
es, mit Formularen wie einem Quittungsblock oder einem
Restaurantbestellblock
oder einem unbenutzten Scheckbuch zu spielen. Ich kenne viele Kinder,
die
Stunden über Stunden damit verbracht haben, Schreiben zu üben
und zu lernen wie
die Laute durch Buchstaben repräsentiert werden und wie Buchstaben
sich zu
Wörtern zusammensetzen, indem sie von Mitgliedern der Familie
„Restaurantbestellungen“ aufgenommen haben. Meine Kinder haben oft
wundervoll
gestaltete Speisekarten für das Abendessen gebastelt.
Selbstklebende Zettel,
die man heute in allen Größen und Farben kaufen kann, sind
meist beliebt bei
Kindern, die es einfach LIEBEN etwas darauf zu schreiben oder zu malen
und sie
überall im Haus hinzukleben. Meine Kinder und ihre Cousins haben
es zur
Tradition werden lassen, bei ihrer Großmutter kleine lustige
Notizzettel zu
schreiben und sie an Stellen zu kleben, wo man sie nicht erwartet.
Großmutter
holt beispielsweise den Erste-Hilfe-Kasten hervor und findet dabei
einen
Zettel, auf dem „Autsch!“ steht. Ich
habe keinem
meiner Kinder je “Leseunterricht” gegeben. Meine beiden Ältesten
haben Lesen
gelernt als sie noch keine fünf Jahre alt waren. Als sie sechs
wurden, lasen
sie schon umfangreiche Bücher, wie z.B. die Reihe von Laura
Ingalls Wilder. Die
Älteste hat auf eine Weise Lesen gelernt, die mir erlaubte, den
Prozess zu
beobachten. Sie stellte Fragen über Buchstaben und Wörter,
sie verfolgte die
Zeilen, wenn ich ihr etwas vorlas, sie begann Schilder zu lesen, wir
machten
Reimspiele, sie fing an mich zu fragen, wie man bestimmte Wörter
schrieb und
ziemlich bald konnte sie lesen. Bei
meinem zweiten
Kind habe ich nichts mitbekommen. Ich habe erst erfahren, dass sie
tatsächlich
lesen kann als ihre ältere Schwester mich eines Abends in ihr
gemeinsames
Zimmer rief und sich beschwerte: „Roxana hört nicht auf laut zu
lesen und das
stört mich.“ Ich dachte, sie könnte das Buch auswendig und
tat so als ob sie
las. Aber nein, sie las wirklich und sogar recht flüssig. Die
große Schwester
berichtete mir, dass sie sie seit Wochen wahnsinnig machte mit ihren
Fragen: „Was
heißt das hier? Was steht dort?“, wenn sie abends mit ihren
Büchern im Bett
lagen. Ich wusste von nichts.
Mein
drittes Kind
lernt ganz anders als ihre Schwestern; sie hat um ihren achten
Geburtstag herum
Lesen gelernt. In ungefähr sechs Wochen hat sich ihre
Lesefähigkeit von beinahe
Null, vom mühevollen Entziffern einfacher Wörter, zur
Lektüre von Shakespeare
entwickelt. Ich meine es wirklich ernst. Sie und ihre Schwestern
spielten als
Feen in einer Aufführung von Shakespeares “Sommernachtstraum“
mit und eines
Tages fand ich sie in das Skript vertieft; sie las laut vor, mit
wundervoller
Betonung. Ich gebe zu, dass ich schon angefangen hatte mir etwas Sorgen
zu
machen, weil sie noch nicht lesen konnte, wobei ich sehr darauf
achtete, sie
nicht merken zu lassen, dass ich einen Anflug von Nervosität
verspürte. Als sie
sechs Jahre alt wurde und dann sieben und dann acht, konnte ich nicht
anders
als an die vielen, vielen Bücher zu denken, die ihre Schwestern in
dem Alter bereits
gelesen hatten. Aber sie holt die „verlorene“ Zeit jetzt nach. (Ich
betrachte
diese Zeit nicht wirklich als verloren, sie war ständig
beschäftigt und hat
immer viel gelernt.) Gestern hat sie “Wilbur und Charlotte” gelesen,
vorgestern
“Charlie und die Schokoladenfabrik”. Sie ist vernarrt in Bücher.
Als ich
neulich mit “Die Borger” nach Hause kam, entlockte ihr die Vorfreude
auf dieses
Buch einen Jubelschrei. Wer
wollte mehr
verlangen? © Copyright Pam Sorooshian
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